2023-04-25 10:26:05
Bericht #7 - Die Schattenseiten des Austauschs und musikalische Förderung an Schulen
Der siebte Monat wurde stark von einer Katastrophe geprägt, über die ich ungern nachdenke. Gleich einen Tag nachdem wir Austauschschüler meiner Region uns am Ende des sechsten Monats bei der Orientierung zusammengefunden und wieder getrennt hatten, um in unsere separaten Leben im Austausch zurückzukehren, bekam ich einen Anruf der AFS-Koordinatorin, die die Orientierung gehostet hatte. Sie erklärte mir, dass die türkische Austauschschülerin unserer Gruppe ihre Familie im Erdbeben um die Türkei und Syrien verloren hatte, am gleichen Tag der Orientierung noch. In diesem Bezug möchte ich etwas mehr in die eher dunklere Seite der Mentalität eingehen, ein Austauschschüler zu sein, und was einen möglicherwiese erwarten könnte. Wenn man sich dazu bereiterklärt, für ein Jahr in ein anderes Land oder sogar einen anderen Kontinent am anderen Ende der Welt zu reisen, ist nahezu selbstverständlich, dass man aufgrund von Kosten der Weitflugstrecke oder auch einfach nur zur Vermeidung von verstärkter Heimweh seine Familie in diesem Zeitraum nicht sieht. Wenn man dabei buchstäblich nicht die Wahl hat, mal eben zurückzufliegen wann immer es einem passt, fühlt man sich isoliert von einem zuvor sozial sehr bekannten und relativ einfach zugänglichen Umfeld. Diese soziale und mentale Isolation und Distanz kann ein Gefühl von Furcht hervorrufen, der Familie könne etwas geschehen, während man außer Lande ist. Ich weiß nicht wovor genau man dabei Furcht hat. Denn ob man nun dort ist oder nicht, einer Katastrophe wie dieser könnten sie mit meiner Anwesenheit auch nicht wahrscheinlicher überleben, ich könnte in einem solchen Szenario immerhin ebenso umkommen. Womöglich hat man Angst vor der Schuld, die einem als Überlebender überrennen würde, oder auch einfach nur davor, sich nicht richtig verabschieden zu können, gewollte Dinge auch mal auszusprechen, die ansonsten in den unendlichen Weiten des eigenen Gedankenhorizonts unausgesprochen ins Leere verloren gingen. Es könnte viele Gründe haben, aber ich kann beinahe versichern, dass jeder, der einen Austausch macht oder hinter sich hat, mindestens einmal über das Szenario nachgedacht hat. Bis vor kurzem war das auch nichts weiter als ein imaginäres Szenario. Dass es einem meiner Austauschschülerfreunden aber tatsächlich passiert, brachte dieses Szenario in die Wirklichkeit. Es war merkwürdig darüber nachzudenken, dass wir uns gerade noch gesehen und unterhalten hatten und im Grunde auf Perspektive des Austauschs allgemein in der gleichen Situation waren, und von einem Moment auf den anderen konnte ich den Austausch weiterführen, während ihr Leben urplötzlich auf den Kopf gestellt wurde. Es führte zur Realisierung, wie schnell ein Wendepunkt ohne Vorwarnung ins Leben hereinplatzen kann, und dass es mir und jedem natürlich jeder Zeit ebenso ergehen könnte. Unmittelbar nachdem mich die Nachricht erreichte und ich Kontakt zu meiner türkischen Freundin aufnahm, verdrängte ich die mentale Aufarbeitung des ganzen Problems erst einmal, da ich die geistige Kapazität zu der Zeit nicht hatte und mich nicht zwangsweise dazu bringen wollte, darüber nachdenken zu müssen. Glücklicherweise arrangierte meine Austauschorganisation eine freiwillige Videokonferenz mit einer Traumatherapeutin, mit der wir optional ein Einzel- und oder Gruppengespräch führen konnten. Während den ca. eineinhalb bis zwei Stunden hat mir persönlich die Therapeutin extrem weitergeholfen, mit den Schuldgefühlen gegenüber unserer Freundin und unseren eigenen Ängsten umzugehen und mental aufzuarbeiten. Und seit ich in den anschließenden Tagen das Gelernte verinnerlicht und reflektiert hatte, hat mich das Thema nicht mehr in meinem Kopf negativ nachwirkend belästigt. Das ist eine Seite des Austauschs – die Gedanken über solcherlei Dinge – über die man zwar nicht gern spricht, die aber dennoch dazugehören und damit zur realgetreuen Berichterstattung dessen unvermeidlich sind.
Nun möchte ich mich einem heitereren Thema widmen: Die musikalische Förderung in High-Schools in den USA. Mitte Februar fand nämlich eine weitere Band Performance statt, an der ich teilnahm und als zweiter Euphonium-Spieler neben meiner Freundin Morgan spielte. Dabei war die Performance teil eines Fundraisers für unsere Concert Band für zukünftige Trips und Exkursionen. Dazu hatte jede Sektion der Band einen Geschenkkorb bzw. „Braskets“ vorzubereiten, in den die verschiedensten Dinge gefüllt wurden: Ob DVDs, eine Torte, Süßigkeiten, Kosmetikartikel, Knabberzeug usw. Alle Besucher, sowohl Eltern, Lehrer als auch Schüler, konnten Coupons mit jeweils einem Wert von einem Dollar in ein Glas werfen, das vor dem Korb stand, den man gern haben wollte. Am Ende des Abends wurde ausgelost, wer welchen Korb erhielt. Hierbei konnte man so viele Coupons in einen oder mehrere Gläser werfen wie man mochte. Meine Freundin Morgan hatte drei meiner Coupons entgegen meines Willens für einen spezifischen Korb reingestopft, den sie eigentlich gewinnen wollte. Sie hingegen selbst hatte so um die zwanzig Dollar da reingesteckt. Dass ich dann am Ende den Korb gewonnen hatte, den sie gewollt hatte, ich aber ursprünglich nicht, hatte ich ihr natürlich unter die Nase reiben müssen.
Auch Ende des Monats fand eine weitere Performance statt. Dieses Mal aber kein Fundraiser, sondern eine anzahlreiche Veranstaltung mit kooperierenden Schulen aus Modesto, die mitunter Grundschulen und eine Mittelstufe (bzw. Elementary-Schools und eine Middle-School) miteinschlossen. Denn in den USA ist Band ein Wahlfach, das man seit der Grundschule bis hin zum High-School Abschluss wählen kann. Bei dem Konzert kamen also um die 500 Bandschüler zusammen, jede Schule performte verschiedene Stücke inmitten der Johansen High School Sporthalle, die das Event hostete. Wenn man aus einem Land wie Deutschland kommt, wo die Förderung von Musik an Schulen untergründig vernachlässigt, verschwendet, großteilig theoretisch und im Gesamten einfach beschissen ist, ist es ein sehr beeindruckender und schöner Anblick, so viele Kinder und Jugendliche zu sehen, die sich für Musik begeistern und vor Dutzenden, wenn nicht sogar Hunderten von Leuten spielen.
Das Musikspielen und Erlernen von Instrumenten ist nicht einfach. Um Begeisterung dafür zu finden, muss man, besonders als Kind, optimalerweise Hilfe haben, wenn man dabei erfolgreich sein möchte. Dabei ist meiner Meinung nach der Zugang zu Musik ein entscheidender Faktor. Je einfacher der Zugang ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass sich ein musikinteressiertes Kind dem Interesse und der zukünftig potentiellen Leidenschaft widmet, statt sich in kostspieligen Privatstunden außerhalb der Schulzeit zu verlieren, die sich viele nun einmal nicht leisten können, wie es in Deutschland der Fall ist. Und wenn man in unsere reiche musikalische Geschichte zurückblickt, ist es umso mehr eine Verschwendung, dieses kulturelle Erbe nicht zu fördern. Womöglich ist diese Geschichte Ursprung einer Ignoranz, die zu dieser systematischen Vernachlässigung führte, jedoch Potential verschwendet und Chance primär in finanziellen und zeitlichen Ressourcen sieht. Das ist also etwas, was die USA in den Schulen um einiges besser umsetzt als Deutschland, und was nicht nur musikalisches Interesse fördert, sondern auch für einen Ausgleich von akademischem Fokus und Spaßfaktor sowie persönlicher Entfaltung sorgt.
Kurz nach dem Konzert des Fundraiser-Events stand dann auch Valentinstag an. Dabei konnte ich, wie bereits bei vergangenen Feiertagen, einmal mehr feststellen, wie groß Feiertage hier sind. Auch feststellen konnte ich, wie sehr der Feiertag kommerzialisiert ist. Wohin man auch ging gab es Geschenke, Blumen, Süßigkeiten, Schmuck, alles was verallgemeinert und medial mit Valentinstag assoziiert wird. Manche verkauften Sträuße sogar einfach auf den Straßen oder neben irgendeinem Fußgängerweg. Auch in der Schule sah man überall Geschenktüten, Blumen, Clubs haben teils anonymisierte Blumenlieferdienste zum Schwarm angeboten etc. Und während die einen, wie bspw. ich und meine Freundin Mizuki, den Tag genossen, waren andere wiederum fast ausschließlich genervt oder nahezu verhasst gegenüber all den Paaren. Generell war es am Valentinstag selbst und den Wochen davor ein großes Event. Auch Dinge wie die Frage „Do you want to be my Valentine?“ waren recht groß hier.
Meine Integration hier fühlt sich inzwischen so an, als wäre ich teils schon selbst Amerikaner. Das fällt mir auf wenn ich zum Beispiel nicht mehr sonderlich überrascht bin, wenn ich zufälligerweise auf den Schulgängen einen Schüler mit Spider-Man Maske über dem Kopf sehe oder ein weiterer Schüler in einem aufblasbaren Dinosaurier. Auch manchmal mit Freunden auszugehen und Schwachsinn zu treiben trägt zu diesem Gefühl aber auch dem der Jugend bei. So etwas wie in der Mall durch Geschäfte zu ziehen, sich komische Sachen ansehen, sich über Produkte lustig machen oder einfach die Mall durchstreifen, ohne nach etwas spezifischem zu suchen. Was mir aber wiederum als großer Unterschied zu Deutschland aufgefallen ist, ist wie viel strenger Eltern in den USA sind und wie präsent über mentale Gesundheit gesprochen wird. Ob es nun mexikanische oder US-amerikanische Eltern betrifft, die Erziehungsmethoden hier sind strenger, weniger auf die Freiheit und Selbstständigkeit der Kinder fokussiert. Das habe ich durch Gespräche mit mehreren Leuten über das gesamte Austauschjahr über mitbekommen, sodass es nicht unüblich ist, den Live-Standort der Kinder jederzeit zur Verfügung zu haben oder als Jugendlicher auch nicht einfach mal so mit Freunden des anderen Geschlechts abhängen zu können, nicht im selben Zimmer sein darf oder zumindest die Tür offen lassen muss. Dabei wird teils, je nach Eltern, stark in die Privatsphäre eingegriffen. Selbstverständlich ist die Erziehung von Kindern sehr individuell, jedoch gibt es hier Tendenzen, die für mich offensichtlich einen kulturellen Unterschied widerspiegeln. Besonders bei Mädchen sind die Restriktionen in Bezug zu Beziehungen strenger, mehr noch bei mexikanischen Familien. In der Hinsicht habe ich mit meiner Gastfamilie sehr viel Glück gehabt, da sie mir viel Freiraum, Freiheiten und Privatsphäre lassen, die ich persönlich auch benötige. Auch, wie bereits angeschnitten, gehen die Jugendlichen hier in Kalifornien viel offener mit mentalen Krankheiten um. Dazu muss ich hinzufügen, dass ich bisher wenige Amerikaner kennengelernt habe, die keine mentale Krankheit haben. Ob die Jugendlichen hier durch kulturelle Unterschiede wie die Erziehungsmethoden, Schulsystem oder Ökonomie mental in schlechterem Zustand sind, oder in Deutschland einfach wenig offen darüber gesprochen wird, kann ich nicht eindeutig sagen. Allerdings ist es hier nicht selten, dass man lässig und beiläufig mit einem Mitschüler über seine Psychotherapie oder mentale Krankheiten spricht.
Da der siebte Monat inzwischen schon vorbei ist, habe ich gemerkt, wie das Gefühl langsam aufkommt, die Zeit würde mir davonrennen. Das zeichnet sich zum Beispiel an immer häufiger auftretenden Träumen ab, in denen ich kurzfristig nach Hause fliegen muss, ohne all die Dinge gemacht zu haben, die ich geplant hatte. Ich vermute, diese Träume und Gedanken werden in den nächsten Wochen immer stärker zunehmen.
Zum Schluss möchte ich noch etwas über eine weitere BSU-Konferenz (Black Student Union Club) bei MJC (Modesto Junior College) berichten. Während die letzte Konferenz bei University of California Merced stattfand und einen lehrreichen Versuch wagte, über afro-amerikanische Kultur und Rassismus zu lehren, war diese Konferenz weniger dazu da, etwas neues beizubringen, als eher inspirierend und motivierend auf Jugendliche mit afrikanischen oder afro-amerikanischen Wurzeln zu wirken. Hierbei sind mehrere Gastsprecher auf die Bühne getreten und haben ihre Geschichte erzählt, berichtet von systematischer Unterdrückung in den USA, ob in Rap-Songs, Poesie oder in Form eines Vortrags, und haben versucht, junge POCs dazu zu bewegen, ihre Ziele anzustreben und trotz möglicher Unterdrückung zu erreichen. Dabei sind auch schwarze Entrepreneurs auf die Bühne gegangen und wurden interviewt, haben Fragen von aufstrebenden in Business interessierte Schüler beantwortet etc. Da ich persönlich die letzte Konferenz mit ein paar Ausnahmen nicht sonderlich lehrreich fand, hat mir diese Konferenz mit Fokus auf Inspiration und Motivation um einiges besser gefallen.