2016-05-11 11:42:00
Bericht #7
¡Hola!
58. Eine relativ große Zahl. Wenn man von 58 bis 0 herunterzählt, dann kommt einem das manchmal schon echt lang vor. Du, lieber Leser, fragst dich vielleicht, was das mit meinem Auslandsaufenthalt zu tun hat. Ganz einfach, mir verbleiben nur noch diese 58 Tage hier in meiner neuen Kultur, bei meiner zweiten Familie und meinen neuen Freunden. Mir persönlich kommt das nämlich ganz und gar nicht lange vor...
Klar, möchte ich gerne nach Hause zurückkehren und es gibt Phasen, da habe ich großes Heimweh zu meiner Region, meiner Heimat, dass ich bisher noch nie verspürt habe, aber natürlich will ich auch bleiben und weiterhin Neues entdecken, von Ort zu Ort reisen und in einer anderen Sprache kommunizieren. Naja, man kann nicht alles haben, das wird einem immer mal wieder schmerzhaft bewusst :).
Mir ist klar geworden, dass mir schlussendlich das Gejammere nichts bringt. Mein Ziel für die finale Zeit hier lautet wie folgt: Alles ausnutzen und nichts auf morgen verschieben! Ich will nicht bereuen wollen, irgendetwas nicht getan zu haben, nur weil ich an diesem Tag zu faul war oder das Wetter unpassend war. Deswegen versuche ich aus jedem Tag das Maximale herauszuholen und genieße jede einzelne der mir verbleibenden Stunden hier auf der anderen Seite der Welt. Und wenn das Ende gekommen ist, werde ich zufrieden den Heimweg antreten – im Wissen, das Mögliche ausgeschöpft zu haben.
Ich habe bis jetzt schon so viel erlebt und erfahren, und doch werden die letzten Wochen hier sicherlich noch einmal phänomenal. Kommende Woche fliege ich mit meiner chilenischen Familie nach Kuba. Dort offenbart sich mir die Gelegenheit, den Kommunismus mit der Planwirtschaft hautnah mitzuerleben und abgesehen davon sollen die Strände sehr schön sein :).
Wenn wir dann Anfang Juni zurückkehren, darf ich mich sofort auf die nächste Reise vorbereiten. Ich fliege mit 39 anderen Austauschschülern verschiedener Nationalitäten hoch in den Norden Chiles in die Atacama-Wüste, zum trockensten Ort der Welt. Wie mir gesagt wurde, hat es da seit mehr als hundert Jahren nicht mehr geregnet. Ja, ich freue ich mich sehr auf die nächste Zeit, auch wenn das Ende immer näher rückt.
Austausch zwischen Chile und Metropolregion Rhein-Neckar
So, jetzt würde ich gerne auf die Tatsache eingehen, dass ich hier, am anderen Ende der Welt, auf eine sogenannte „deutsche“ Schule gehe. Nach der Unabhängigkeit von Spanien 1818 öffnete Chile seine Grenzen für Einwanderer verschiedener Nationalitäten, insbesondere eben vielen deutschen Einwanderern. Valdivia, meine Heimat hier, war das Zentrum der deutschen Einwanderung und profitierte von der Zuwanderung der Deutschen durch Bevölkerungswachstum und Wirtschaftsaufschwung.
Carl Anwandter, ein deutscher Apotheker und Politiker, gründete hier 1851 die erste Brauerei Chiles, 1852 die auch heute noch bestehende „Freiwillige Feuerwehrkompanie Germania“ und 1858 die „Deutsche Schule“, zu der ich mich jeden Morgen auf den Weg mache. Zu Ehren Carl Anwandters heißt sie "Instituto Alemán Carlos Anwandter". Die Schüler lernen von früh an als Fremdsprache Deutsch; es besteht zudem für sie die Möglichkeit, außer dem Fach Deutsch selbst auch noch andere Fächer in der deutschen Sprache zu wählen, und in der 10. Stufe wird ein dreimonatiger Deutschlandaufenthalt angeboten.
Im Grunde nimmt jeder Schüler dieses Angebot an, wie auch dieses Jahr. Zufälligerweise war ich ja gerade in der Zeit hier in Chile, was zu der witzigen Situation führte, dass alle meine chilenischen Freunde für drei Monate nach Deutschland „abgehauen“ sind und ich dann die Ferien über relativ alleine war. Naja, ich war auch nicht oft hier in der Stadt, sondern in anderen Städten Chiles, in Patagonien zweimal, tagelange Kayaktouren machen mit meinen Brüdern oder auf dem Land mit meiner Familie. Daher war es kein Problem für mich, das ich plötzlich der einzige in meinem Alter war.
Lange Rede, kurzer Sinn: Als sie alle wiederkamen, hatten wir viel zu erzählen und vor allem viel zu lachen :). Es gab insgesamt 5 chilenische Schüler, die tatsächlich in der Metropolregion Rhein-Neckar waren: Mein bester chilenischer Freund war sogar genau in meinem Haus und hat mich als großen Bruder für meine Geschwister hervorragend ersetzt :). Was jetzt jeder genau von der Metropolregion Rhein-Neckar erzählt hat, führt etwas zu weit, aber zusammenfassend kann ich sagen, dass jeder von ihnen unglaublich gerne in dieser Region war. Außerdem meinten sie, dass dort alles um sie herum „funktioniert“ hat. Was das jetzt genau bedeutet und im welchem Sinne man diese Aussage deuten kann, überlasse ich ganz Dir, lieber Leser.
Algenpest bedroht Chiles Fischereiwirtschaft
Genug von Deutschland geredet, jetzt erzähle ich lieber mal was Spannendes, was hier gerade passiert. Etwas südlich von hier, gerade mal 10 Stunden mit dem Auto, also wirklich gar nicht der Rede wert nach chilenischen Verhältnissen, gibt es gerade in diesem Moment große Proteste und die Situation ist sehr stark angespannt. Die Ursache: Chilenische Fischer, die von den Einnahmen vom Verkauf von Meerestieren wie Muscheln, Krebse, Seeigeln und Ähnlichem leben, leiden Hunger, da das Meer vor ihren Küsten sehr stark von der „marea roja“ („Rote Flut“) vergiftet ist. Die „rote Flut“ sind giftige rote Algen, die andere (gute) Algen angreifen und sich stark und sehr schnell vermehren beziehungsweise ausbreiten.
Der chilenische Staat unternimmt momentan viel zu wenig dagegen. Ja, die Präsidentin Michelle Bachelet, die sowieso nicht sonderlich gemocht wird, ist in diesem Augenblick sogar in der Schweiz und wird auch so schnell nicht zurückkommen. Naja, auf jeden Fall protestieren die Fischer jetzt natürlich lauthals und leider sind sie auch zu Gewalttaten fähig…
Chiloé ist eine große und bedeutende Insel, auf der ca. 150.000 Menschen leben, zu der aber nur ein paar Straßen bzw. Fähren führen. Genau diese Straßen haben die wütenden Fischer versperrt und verteidigen diese Sperre mit allem was sie haben. Niemand kann auf die Insel und niemand kann sie verlassen, und das geht schon seit fast einem Monat so. Den Menschen fehlt es so langsam an manchen Lebensmittel oder anderen Dingen und sie können nichts dagegen unternehmen. Ich weiß das so genau, weil Freunde von mir dort leben.
Eigentlich war geplant, dass ich sie voriges Wochenende besuchen sollte, aber der Plan ist leider den Bach runtergegangen. Das chilenische Militär ist sogar schon involviert und wie ich schon sagte, die Situation ist extrem angespannt. Eine der Parteien muss nachgeben und so wie es gerade aussieht, werden die Fischer auf gar keinen Fall diese Partei sein. Leider macht auch der Staat keine Anstalten sich einigen zu wollen und den Fischern mehr Geld zuzugestehen. Also wird wohl vorerst weiterhin protestiert und abgewartet...(ein deutschsprachiger Onlinebericht dazu hier https://amerika21.de/2016/05/152347/chiloe-vollstaendig-blockiert).
Das war´s dann auch erst mal wieder für diesen Monat, mehr habe ich jetzt nicht zu erzählen, denn mein Alltag war ziemlich normal mit Schule, Sport und Freunden. Aber ab heute starten dann die Vorbereitungen für Kuba und die Wüste!
Bis zum nächsten Eintrag wünsche ich Dir, lieber Leser, alles Gute aus Chile!
¡Hasta luego!
Leo