2015-09-21 11:22:00
Bericht #2
Hola! Seit sieben Wochen lebe ich jetzt schon auf der anderen Seite der Erdkugel, es kommt mir jedoch um einiges länger vor. Die Zeit vergeht hier wie im Flug, aber da alles neu ist und ich vieles zum ersten Mal gemacht habe, bleibt mir so ziemlich alles im Gedächtnis und ich frage mich, wie diese Erlebnisse in gerade mal sieben Wochen ihren Platz finden können.
Meine Schule bietet für ihre Schüler in der Klassenstufe 10 einen dreimonatigen Auslandsaufenthalt in Deutschland an, welchen der Großteil der Schüler auch wahrnimmt. Zur Vorbereitung ist eine viertägige Skifreizeit auf dem wenige Busstunden entfernten Vulkan Llaima vorgesehen, bei der normalerweise nur die vom Auslandsaufenthalt betroffenen Schüler mitgehen dürfen. Ich hatte aber eine Idee, wie ich vielleicht auch mitfahren könnte, ich mein´ die Schüler werden ja auf das Leben in Deutschland vorbereitet und ich könnte ihnen ja mal aus meiner jugendlichen Sicht der Dinge etwas über Deutschland bzw. mein Leben in Deutschland erzählen. Diese Idee fand bei meinen Mitschülern sofort freudige Zustimmung, daher fragte ich freundlich bei der Schulleitung nach, die ebenfalls begeistert war.
Also durfte ich mit auf die Skifreizeit und im Gegenzug hielt ich an einem Abend eine kleine Präsentation über mein Leben in Deutschland, meine Region, die Unterschiede zwischen den beiden Kulturen und machte die Jugendlichen auf gewisse Dinge aufmerksam, auf die sie unbedingt zu achten haben. Hier in Chile ist es nämlich gang und gäbe nicht schon um 8 Uhr abends zum Feiern loszuziehen, sondern hier wird es dann auch gerne mal 2 Uhr in der Früh bis man dann bei der eigentlichen Party angekommen ist. Außerdem wird in Chile das Alter beim Kauf von hochprozentigem Alkohol nur selten überprüft, somit wird bei den Feiern auch immer viel getrunken. Wann die Jugendlichen dann nach Hause kommen und wie der nächste Tag aussieht, kannst du dir sicher vorstellen, lieber Leser. Den Schülern alles über Ausgehzeiten und den Konsum und Kauf von Alkohol in Deutschland zu erklären und vor allem wie damit in Deutschland gesetzlich umgegangen wird, schien mir daher wichtig, denn wie ich vom Verbindungslehrer, welcher den Auslandsaufenthalt organisiert, gehört habe, wäre es nicht das erste Mal, dass ein chilenischer Jugendlicher Ärger mit der deutschen Polizei hätte. Der Vortrag kam gut an, die Schulleitung war sehr erfreut und ich durfte Skifahren. Kurz gesagt, alle waren glücklich J.
Am jedem 18. September feiern die Chilenen ihre Unabhängigkeit von Spanien. Es gibt riesige Feste, wo die Traditionen und Gebräuche Chiles demonstriert werden. Die Schüler haben eine Woche schulfrei, jedoch haben sie nicht komplett frei, denn sie geben Tanzauftritte für ihre Eltern, Verwandte, Freunde, eigentlich jeden, der es sehen möchte. Getanzt wird ausschließlich „Cueca“, der Nationaltanz Chiles. Es gibt unzählige Variationen und Formen des Cueca, abhängig von der Region. Cueca ist ein Paartanz, wobei nicht Arm in Arm getanzt wird, wie beispielsweise in Deutschland, sondern die Tanzpartner bewegen sich aufeinander zu oder im Halbkreis umeinander herum. Dabei wirbeln sie mit einem weißen Taschentuch in der rechten Hand umher, wahrscheinlich um ihre Bewegungen zu unterstreichen. Alles in allem ähnelt der Cueca einem Balztanz beider Parteien. Die Schüler lernen ihn im normalen Musikunterricht, tanzen ihn dann vor und werden sogar mit Noten bewertet. Glücklicherweise (räusper J) fing der Musiklehrer erst mit dem Tanzunterricht an, als ich auch dabei war, somit hatte ich das Vergnügen den Cueca zu lernen und ihn dann mit meinen Klassenkameraden aufzuführen. Ein Video davon ist leider nicht vorhanden – hoffe ich J.
Die Chilenen machen keine halben Sachen: Wenn sie feiern, dann richtig. In ganz Chile herrscht die Woche um den 18. September Ausnahmezustand. Sie laden all ihre Verwandten ein, veranstalten große Gartenfeste und erfreuen sich an der Gemeinschaft. Doch dieses Jahr war es anders. Die lang ersehnten Festtage wurden durch das schreckliche Erdbeben der Stärke 8,3 auf der Richterskala nördlich der Hauptstadt Santiago getrübt. Am 17. September um 19:45 Uhr Ortszeit wackelten entlang der Küste Chiles die Häuser und die Menschen rannten panisch auf die Straße, um sich vor den herabfallenden Trümmern zu schützen. Hier in Mittel-, bzw. Südchile, wo ich mit meiner Gastfamilie lebe, war das Erdbeben kaum zu spüren, der Tisch wackelte etwas und man wankte hin und her, wenn man stand, vergleichbar wie auf einem Schiff oder wenn ein schwerer LKW draußen am Haus vorbeifährt.
Doch die Sorge um Verwandte, Freunde oder die betroffenen Personen in den nördlichen Gebieten überschattete die Feste an dem Abend. Vor allem in Santiago war die Zerstörung gewaltig, unglücklicherweise leben dort auch die meisten Menschen in Chile. Von insgesamt 14 Millionen Einwohnern lebt mehr als die Hälfte in dieser einen Stadt. Man hat sich dann aber nach einer Pause und der Vergewisserung, dass es wieder allen Betroffenen einigermaßen gut geht, gefangen, und die Unabhängigkeit wurde lautstark weitergefeiert.
Ich habe den 18. September mit sehr guten chilenischen Freunden, einer Familie, die ich schon seit vielen Jahren kenne, verbracht. Meine Freunde besitzen große Mengen an Land hier in der Nähe von meiner Stadt mit einem Haus, wo man vortrefflich ein „Asado“ (Grillfest) veranstalten kann. Gar nicht weit entfernt, ca. eine halbe Stunde zu Fuß, befindet sich auch das kleine Stückchen Land, was meiner Familie gehört. Da es aus völligem Urwald besteht, und es sich mitten im Nirgendwo befindet, hat mein Vater mit dem Vater der befreundeten Familie vor vielen Jahren ein großes Eingangstor zur Erkennung an den Anfang gesetzt.
Wir saßen also alle zusammen in großer Runde am Tisch in diesem Haus, hatten gut gegessen und feierten zusammen den chilenischen Unabhängigkeitstag. Ich verspürte den Drang, irgendetwas zu unternehmen oder mich wenigstens zu bewegen, da fiel mir ein, dass ich unbedingt mal unser Land sehen wollte und da ich jetzt schon so nah dran war, zog ich nur mit einem Kompass bewaffnet (ich hatte mein Handy zwar dabei, aber man hat sowieso nur in der Stadt Empfang) los. Es gab nur ein paar Pfade und meine Freunde hatten mir gesagt, in welcher Himmelsrichtung ungefähr das Land liegt, also war es gut möglich, dass ich das Tor wirklich finden könnte. Und tatsächlich, nach zwanzig Minuten laufen, habe ich es gefunden und konnte endlich einen kleinen Traum von mir verwirklichen. Auf Land zu stehen, das einem quasi gehört, jedoch aufgrund der gewaltigen Entfernung schier unerreichbar schien. Dieses Auslandsjahr hier in Chile hat es mir möglich gemacht. Für mich persönlich hätte der höchste chilenische Feiertag nicht besser laufen können.
Mit diesen schönen Erinnerungen und Erlebnissen möchte ich nun abschließen. Ich freue mich auf den nächsten Eintrag und hoffe Du, lieber Leser, bist dann auch wieder dabei! Hasta luego Leander Schlüchtermann